«Wir haben nicht zuwenig Zeit; wir vergeuden zuviel! Wie grosse und königliche Schätze, wenn sie an einen üblen Herrn fallen, im Augenblick in alle Winde zerstreut sind, mässiger Reichtum dagegen durch den weisen Gebrauch unter der Hand eines guten Haushalters wächst, so ist unser Leben lang genug, wenn man damit gut haushält.
Ihr lebt, als wäret ihr ewig da; nie fällt euch eure Hinfälligkeit ein. Alles haltet ihr fest, und doch müsst ihr sterben; alles begehret ihr, als solltet ihr ewig leben. Die Kunst zu leben muss man das ganze Leben hindurch lernen, und was dich vielleicht noch wunderbarer dünkt: sein Leben lang muss man sterben lernen.
Jeder beschleunigt sein Leben und leidet an der Sehnsucht nach Zukunft, während die Gegenwart ihm entleidet ist. Wer aber jeden Augenblick recht für sich benutzt, wer jeden Tag so einrichtet, als ob er das ganze Leben wäre, der wünscht den folgenden Tag nicht und fürchtet ihn nicht. Denn welchen neuen Genuss könnte ihm wohl irgendeine Stunde bringen? Er kennt alles und hat alles zur Genüge gekostet; über das andere mag das Schicksal verfügen, wie es will; sein Leben ist schon in Sicherheit. Hinzukommen kann noch etwas, entrissen kann ihm nichts werden; und hinzukommen nur so, wie wenn einer, der schon satt, aber nicht gerade voll ist, noch etwas Speise zu sich nimmt, ohne ein Bedürfnis danach zu haben.
Das grösste Hindernis im Leben ist die Erwartung, die von dem morgigen Tage abhängig macht. Mit dem, was in der Hand des Zufalls ist, macht man Pläne; darüber lässt man fahren, was man in der Hand hat, und verliert das Heute. Wohn blickst du? Wonach strebst du: Alles, was in der Zukunft liegt, ist ungewiss: lebe in der Gegenwart!
In drei Zeiten teilt sich das Leben, in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Die Zeit, in welcher wir jetzt leben, ist kurz, die Zukunft ungewiss, nur die Vergangenheit ist gewiss. Das ist der unantastbare vollendete Teil unserer Zeit, allen menschlichen Wechselfällen entronnen, dem Reiche des Zufalls entrückt, den weder Mangel, noch Furcht, noch Krankheit beunruhigt. Der kann nicht getrübt und nicht geraubt werden; dieser Besitz ist beständig und ruhevoll. Die Gegenwart besteht nur aus einzelnen Tagen und auch diese nur aus Augenblicken; die Tage der Vergangenheit aber werden, sooft du es haben willst, deinem Gedächtnis zur Verfügung stehen und sich von dir nach Belieben betrachten und festhalten lassen.
Diejenigen allein leben in Musse, die ihre Zeit der Weisheit widmen, sie allein leben wahrhaft, denn sie benutzen nicht nur ihre eigene Lebenszeit gut, sondern sie machen sogar jedes andere Zeitalter zu dem ihrigen. Alle Jahre, die vor ihnen gelebt wurden, gehören ihnen auch. Wenn wir nicht ganz undankbar sind, so sind jene berühmten Religionsstifter für uns geboren und haben uns den Weg zum rechten Leben gebahnt. Zu dem Schönsten, was aus der Finsternis ans Licht kam, werden wir durch die Tätigkeit anderer geführt. Kein Jahrhundert ist uns verschlossen, zu allen haben wir Zutritt, und wenn wir hohen Sinnes über die Grenzen menschlicher Schwachheit hinausgehen wollen, können wir eine grosse Strecke Zeit durchwandern. Wir können disputieren mit Sokrates, zweifeln mit Karneades, ruhig leben mit Epikur, die menschliche Natur überwinden mit den Stoikern, über sie hinausgehen mit den Kynikern, da uns die Natur der Dinge gestattet, mit jedem Zeitalter als seine Genossen zu wandeln. Warum sollten wir uns nicht von diesen unbedeutenden vergänglichen Augenblicken wegwenden uns ganz versenken in die unermessliche Ewigkeit, die wir mit den Edelsten gemein haben?
Ziehe dich zurück in die sichere edle Ruhe. Hälst du es für gleichbedeutend, ob du dafür sorgst, dass das Getreide, ohne durch den Betrug oder durch die Nachlässigkeit der Lieferanten Einbusse zu erleiden, in die Scheunen geschafft, dass es nicht durch Feuchtigkeit verdorben und warm werde und dass es das rechte Mass und Gewicht habe, oder ob du dich mit den heiligen erhabenen Fragen beschäftigst, was die Götter für Wesen seien, welche Genüsse ihnen zukommen, welches ihr Zustand und ihre Gestalt sei; was für ein Los deinen Geist erwarte, wo die Natur uns wohl hintue, wenn wir unseren Leib abgelegt haben, was die ungeheuer schweren Weltkörper im Gleichgewicht erhalte, über dem Leichten sie schweben lasse, zum höchsten Licht sie emporhebe, die Gestirne zu ihrem Lauf antreibe und was es sonst noch überall für Wunderdinge gibt? Willst du, die Erde zurücklassend, im Geiste dich dorthin erheben? Jetzt, solange das Blut noch warm im Körper kreist, in frischer Lebenskraft muss man sich an das Edlere machen. Es erwartet dich bei dieser Lebensweise eine Menge edler Wissenschaften, Liebe zur Tugend und ihre Übung, einschlummern der Begierden, die rechte Weisheit zum Leben und zum Sterben, eine erhabene Ruhe.»[1]
[1] Lucius Annaeus Seneca: Von der Kürze des Lebens; in: Lucius Annaeus Seneca: Vom glücklichen Leben und anderen Schriften. Übersetzung nach Ludwig Rumpel. Mit Einführung und Anmerkungen herausgegeben von Peter Jaerisch, Reclams Universalbibliothek Nr. 7790 [2]; Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, 1990; Seite 115-117.
> Auswahl [durch Reclam] aus Kap. 1, 4, 7, 9, 10, 14, 19; d.h. aus den Briefen an Lucilius
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